Am Morgen des 9.November wurde der seit dem Vorabend eingestellte Fernsprech- und Telegrafenverkehr wieder in Betrieb genommen, allerdings durften die Postämter noch immer keine Geld- und Wertpakete annehmen. Die Börse blieb wie am Vortag geschlossen. Auch der Eisenbahnverkehr fand nur sehr eingeschränkt statt und es wurden fast ausschließlich Güter transportiert. Die Strecken von Berlin aus nach Hamburg, Magdeburg und Hannover waren ganz gesperrt. Am 8.November hatten die Eisenbahner ihre Bedingungen für eine Nichtbeteiligung an den Streikmaßnahmen an die Regierung gestellt: die Notlage der Pensionäre sollte abgeschafft werden und der Ministerialdirektor von nun an aus den unteren Reihen kommen. Teuerungsbeihilfen sollten erlassen und eine Lohnreform durchgeführt werden.
Als Vorsorgemaßnahme in Betracht auf revolutionäre Übergriffe war das Stadtschloss am frühen Morgen weiträumig durch Militär abgesperrt worden, niemand durfte passieren. Für das Reichsmarineamt, dessen Eingänge alle mit Maschinengewehren und Soldaten besetzt waren, war sogar ein richtiggehender Schlachtplan für den Fall eines Angriffes ausgearbeitet worden.
Die Soldaten des Naumburger Jägerbataillons spürten die Spannung, die in der Luft lag und wollten daher nicht warten, bis sie von den Offizieren über die Lage unterrichtet werden würden, sondern sich selbst ein Bild machen. So fuhr am frühen Morgen des 9.November eine Delegation der Soldaten zum Vorwärts-Gebäude, in dem seit 7.00 Uhr die SPD-Betriebsvertrauensleute tagten und auf Befehle des Vollzugsausschusses warteten, wie man die geplanten Aktionen am heutigen Tage durchführen sollte.
In diese Versammlung platzten nun unerwartet jene, die diese Aktionen mit Waffengewalt verhindern sollten. Otto Wels wurde aufgefordert die Delegation in die Alexander Kaserne zu begleiten und dort die Truppe über die Situation in Berlin zu unterrichten.
In seiner anfangs recht zurückhaltenden Rede, die er im Kasernenhof hielt, rief Wels den Soldaten schließlich zu, da er merkte, dass sie sehr positiv auf ihn reagierten, "Es ist eure Pflicht, den Bürgerkrieg zu verhindern!"Otto Wels zitiert nach: Haffner, Sebastian: "Die deutsche Revolution 1918/1919". München 1979; Seite 75 .
Und die Soldaten erfüllten ihre "Pflicht": Wels wurde von einer 60 Mann starken Schutztruppe zum Vorwärts zurück begleitet und ab jetzt sorgten die Regierungstruppen für die Sicherheit der Arbeiter und der SPD.
Der Regierung war ihr letztes Verteidigungsschild in der Hauptstadt genommen; nun hatten die Revolutionäre freie Hand.
Am Morgen wurden die Flugblätter des Spartakusbundes und des Vollzugsausschusses in den Berliner Betrieben verteilt. Im "Vorwärts" rief die SPD hingegen zu "Besonnenheit" auf, da man sonst die Friedensverhandlungen gefährden könnte. Ebert war bei seiner Meinung geblieben: "Blicken sie nach Russland und sie sind gewarnt"Friedrich Ebert am 22.Oktober 1918 im Reichstag zitiert nach: Maser, Werner: "Friedrich Ebert". München 1987; Seite 170 - die "soziale Revolution" musste verhindert werden.
Als um 9.00 Uhr die Frühschicht abgelöst wurde, versammelte man sich vor den Betriebstoren. Die Arbeiter wurden durch Obleute und Spartakusanhänger, die schon seit dem Frühjahr 1918 in der Rittergutstraße - heutige Joseph-Orlopp-Straße - in Friedrichshain ein illegales Arsenal aufgebaut hatten, bewaffnet. Anschließend setzten sich die Demonstrationszüge, meist von roten Fahnen schwenkenden Obleuten oder Soldaten angeführt, in Richtung Stadtmitte in Bewegung. Nach den Plänen des Vollzugsausschusses sollten sich sieben sternförmig aufeinander zulaufende Hauptzüge bilden. Die Arbeiter von Schwarzkopff, der Torpedofabrik der Deutschen Waffen- und Munitionswerke Ludwig Lowe und von der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft waren die Ersten, die an diesem Tag den Generalstreik für ihre Betriebe erklärten.
Was nun in der Hauptstadt begann hatte keineswegs mehr den Charakter der von den Kieler Matrosen spontan organisierten Aufstände, die im Vergleich hierzu "unpolitisch" waren. Den Initiatoren ging es nicht mehr nur um "Frieden und Brot", sondern um den Kampf der Systeme. Dass sie nicht erkannten, dass ihre Werkzeuge, die Arbeiter und Soldaten, aber ausschließlich bereit waren für eben diesen, für sie lebensnotwendigen, Frieden zu kämpfen, sollte den Revolutionsführern zum Verhängnis werden.
Die Demonstranten, die durch Berlin zogen, trugen Plakate mit den Aufschriften "Frieden!", "Brot" , "Freiheit", "Nicht schießen!", "Kommt zu uns" und forderten eine sofortige Abdankung des Kaisers. Sie erhielten Unterstützung durch eine Delegation Hannoveranischer Soldaten, die um 10.30 Uhr in Berlin eintrafen, sowie durch eine Abordnung Wilhelmshavener Matrosen, die um 14.00 Uhr auf dem inzwischen besetzten Flugplatz Johannisthal eintrafen. Ihnen folgten um 15.00 Uhr 3000 Kieler Soldaten, die zu Fuß und auf Lastwagen durch das Brandenburger Tor in die Stadt einzogen.
Um 10.30 Uhr wurde in Moabit durch die Streikenden der Straßenbahnverkehr durch ein Kappen der Stromleitungen zum Erliegen gebracht. Eine Stunde später standen bereits alle Straßenbahnen still; die Stromversorgung des Verkehrsnetzes war nun komplett zusammengebrochen. Die Züge wurden in die nächsten Bahnhöfe geleitet, da die Depots im Norden bereits durch Arbeiter besetzt waren. Nur wenige Linien konnten in Betrieb bleiben, jedoch fuhren die Hoch- und Untergrundbahnen, durch ihre gesonderte Stromversorgung, ohne Unterbrechung.
Zu weiteren Ausschreitung oder Randalen seitens der Demonstranten kam es an diesem Tag nicht. Die Menschen zogen friedlich durch die Straßen, riefen ihre Parolen oder sangen die "Internationale", die nun in Anlehnung an die französische Revolution den Beinamen "Arbeitermarseillaise" erhielt.
Dem 4000-Mann starken Demonstrationszugzug des Schwartzkopffwerkes schlossen sich AEG-Arbeiter aus den Fabriken in der Brunnenstraße und der Ackerstraße an, sodass der Zug bald 10.000 Menschen zählte. Über die Invalidenstraße erreichte man um 12.00 Uhr gemeinsam die Maikäferkaserne in der Chausseestraße am Lehrter Bahnhof, wo die Gardefüsiliere stationiert waren. Die Kaserne war regelrecht verbarrikadiert worden, da die Offiziere ein Überlaufen ihrer Truppe verhindern wollten; man kam weder rein noch raus. Die Demonstranten forderten die Soldaten an den Fenstern durch Sprechchöre und Zurufe, wie: "Schießt nicht auf eure Brüder!", zur Solidarität auf. Einige hatten sogar Leitern mitgebracht, die sie nun an die Mauern stellten um näher an die Soldaten heranzukommen. Ein Trupp Demonstranten versuchte das Einfahrtstor in der Mühlenstraße aufzubrechen. Nachdem es ihnen gelungen war, stürmten sie in den Kasernenhof. Hierbei eröffnete ein Offizier das Feuer und verschuldete die einzigen Toten dieses Tages: es waren der der Gastwirt Richard Glatte, der Monteur Franz Schwengler und der Werkzeugschlosser und Spartakus-Anhänger Erich Habersaath.
Gegen 13.00 Uhr wurden die Gefängnisse in Moabit und Tegel erstürmt und ca. 200 Häftlinge wieder freigelassen.
Auch die Einnahme des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz verlief unblutig. Unter der Leitung des USPD-Miltgliedes Emil Eichhorn wurde an den Polizeipräsidenten, der sich in dem mit Maschinengewehren gespickten Gebäude verschanzt hielt, die Forderung nach einer Übergabe gestellt. Doch schon bevor die Verhandlungen erfolgreich beendet waren, hatten sich bereits die meisten Polizisten selbst entwaffnet und waren aus Angst vor der draußen wartenden Menschenmenge geflohen. Die Demonstranten nahmen die Waffen an sich und befreiten die 680 Inhaftierten. Eichhorn übernahm an Ort und Stelle das Amt des Polizeipräsidenten.
Der Besetzung des Berliner Polizeipräsidiums folgten weitere Einnahmen öffentlicher Gebäude. Das Neuköllner Polizeipräsidium, das Wolff'sche Telegrafenbüro, das Telegrafenamt und viele große Verlage waren bald in der Hand der Arbeiter und Soldaten.
Hermann Duncker, ein Mitglied des Spartakusbundes, führte die Besetzung des "Berliner-Lokal-Anzeigers" an, in dem noch am Abend die erste Ausgabe der "Roten Fahne", der neuen Spartakus-Zeitung, gedruckt wurde. Auch wurden die Redaktionen der "Berliner Allgemeinen Zeitung" und der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" besetzt, von wo aus die USPD ab jetzt "Die Internationale" herausgab.
Die Arbeiter der städtischen Betriebe, wie den Gas- und Wasserwerken, beteiligten sich nicht an dem Streik, wohl aber die der industriellen Großbetriebe. Bei Daimler (Marienfelde), der Geschossfabrik Otto Jochmanen-Vossingwalde (Weißensee), den Siler-Werken (Weißensee), der Knorr-Bremse AG, Stock und Comp. (Mariendorf), der Fritz-Werner AG (Mariendorf), Siemens und Halske und der Argus Motorenfabrik (Neukölln) war bis 12.00 Uhr der Generalstreik ausgerufen worden.
Überall in der Stadt fanden spontane Kundgebungen statt, bei denen die Matrosen, Arbeiter oder Politiker einfach von den Dächern oder Ladeflächen der Autos zu ihren Zuhörern sprachen.
Obwohl sich vor allem in der Stadtmitte Offizierstruppen verschanzt hatten, deren Aufgabe es war die Gebäude Unter den Linden zu schützen, waren die Kämpfe auch hier sehr schnell beendet, da die kaisertreuen Offiziere erkannten, dass nichts mehr von dem alten System existierte, für das sie kämpfen sollten. Sie machten Platz für die Tausenden von Demonstranten, die sich dort versammelten um den Reden der Streikführer zu lauschen.
Auch General von Linsingen musste bald einsehen, dass die revolutionären Arbeiter und Soldaten eindeutig eine Übermacht darstellten und gab, ohne die Stellungnahme von Max von Baden abzuwarten, den Befehl heraus, dass "Truppen (...) nicht von den Waffe Gebrauch zu machen (hätten), auch nicht bei Verteidigung von Gebäuden"Haffner, Sebastian: "Die deutsche Revolution 1918/1919". München 1979; Seite 80 .
Max von Baden kam daher zu spät, als er Linsingen auffordern wollte einen Schießbefehl "zum Schutz von Leben und Existenz der Bürger und zum Schutz der Regierungsgebäude"Haffner, Sebastian: "Die deutsche Revolution 1918/1919". München 1979; Seite 80 zu erteilen; der gegensätzliche Befehl war bereits erteilt worden. Doch hatte auch dieser keine Bedeutung mehr, da sämtliche Regierungstruppen in Berlin schon zu den Aufständischen übergelaufen waren. Diejenigen Soldaten, die das Schloss Bellevue und die Spreebrücke verteidigen sollten, warfen kurzerhand ihre Gewehre in den Fluss und sogar die Polizisten zogen sich als Zeichen ihrer Solidarität mit den Arbeitern und Soldaten rote Armbinden über. Sie wollten sich von den Kaisertreuen unterschieden wissen, die an der Lützow-/Ecke Genthiner Straße noch immer bewaffneten Widerstand gegen die Demonstranten leisteten.
Um 13.00 Uhr beschloss das Provinzialschulkollegium, dass die Schulen nicht geschlossen werden sollten, jedoch wurde den Schulleitern freigestellt den Unterricht "zum Schutz der Kinder" auszusetzen.
Auf Grund der Masse an Ereignissen an diesem Tag druckten die Zeitungen diese am 9.November einfach in der Reihenfolge ab, wie sie in den Redaktionen eintrafen, wodurch die Uhrzeiten je nach Blatt sehr variierten. Um die Menschen bestmöglich über den Stand der Dinge zu informieren, wurden teilweise drei Ausgaben einer Zeitung gedruckt, die meist nur vier Seiten umfassten. Der Absatz war enorm; jeder wollte wissen, welche Konsequenzen die Aktionen haben würden.
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